Den Krieg mit Liebe bekämpfen
von Sreepriya Rohit, Budomierz, Polen
Sreepriya Rohit ist Absolventin des Bachelor-Studiengangs Informatik und Ingenieurwesen der Amrita Vishwa Vidyapeetham Universität. Gemeinsam mit ihrem Mann Rohit Kartha lebt sie seit kurzem in München. Beide ließen sich von ihrem Arbeitgeber freistellen, um ehrenamtlich an der Flüchtlingsstation von Embracing the World in Budomierz an der polnisch-ukrainischen Grenze zu helfen.
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich den Krieg aus nächster Nähe erleben durfte. Tatsächlich war es eine knallharte Realität, von der ich wünschte, dass es sie nicht gäbe. Am 4. März begannen Rohit und ich unsere Reise an die polnische Grenze.
Swami Shubamritananda koordiniert die humanitäre Arbeit von Embracing the World in Europa. Als er uns am Vortag anrief, um uns die Situation zu erläutern, hatte ich das Bild vor Augen, dass uns ungefähr 40 indische Studenten in einem Hotelzimmer in Polen erwarteten, die traumatische Situationen erlebt hatten und jemanden zum reden brauchten.
Die Aufgabe schien machbar zu sein, auch wenn ich so etwas noch nie zuvor getan hatte. Wir fanden einen Flug für den folgenden Tag und starteten mit unserer Mission. Marcin Krol, unsere Kontaktperson in Polen, schrieb uns, dass uns jemand am Flughafen abholen würde.
Vom Flughafen Krakau waren es ca. drei Stunden Autofahrt bis zur ukrainischen Grenze. Sobald wir die Autobahn verlassen hatten, fuhren wir nur noch Landstraßen, die von kleinen Häusern gesäumt waren. Dann wurden die Häuser immer spärlicher und es wurde kahl und öde. Es fühlte sich an wie im Niemandsland mitten im Nirgendwo.
Als wir schließlich in unserer Bleibe angelangt waren, begrüßte uns Marcin sichtlich erleichtert. Er hörte gar nicht auf, sich immer wieder bei Amma dafür zu bedanken, dass sie uns geschickt hatte. Dann brachte er uns in unser Zimmer in dem kleinen Gästehaus, das eine gemeinsame Küche hatte.
Zwei Kinder spielten dort, während ihre Mutter kochte. Marcin erklärte, dass sie Ukrainer seien und erst vor zwei Tagen die Grenze passiert hätten. Der Hausbesitzer war ein freundlicher Mann, er bot allen bedürftigen Flüchtlingen Unterkunft an. Ich fragte Marcin nach den indischen Studenten. Er meinte, dass die meisten voraussichtlich bald an der 2 km entfernten Grenze ankommen würden.
In diesem Moment wurde mir klar, dass die Aufgabe nicht nur darin bestand, mit einigen Studenten zu sprechen, sondern weitaus mehr umfasste. Wir fuhren zur Grenze und als wir dort ankamen, sahen wir viele weiße Zelte voller Frauen, kleinen Kindern und alten Menschen.
Jeder, der gerade über die Grenze gekommen war, konnte solange in den Zelten warten, bis eine Unterkunft gefunden oder eine Fahrt zum jeweiligen Zielort organisiert war. Es gab heiße Suppe und belegte Brote. In einem der Zelte wurden erste Hilfe und Medikamente angeboten. Ein anderes Zelt war voller Kleidung. Die beheizten Zelte waren randvoll mit Menschen, die auf Holzbänken saßen und sich von der klirrenden Kälte aufwärmten.
Marcin brachte uns zum Grenzübergang, der etwa 700 Meter entfernt lag. Als wir dorthin liefen, sahen wir viele Flüchtlingsgruppen, die von dort zu den Zelten strebten. Die Temperaturen lagen bei – 5°C und es war 21:00 Uhr. Wenige Meter von uns entfernt kämpfte eine alte Frau mit ihrem Gepäck. Nach einigen Versuchen stellte sie es erschöpft ab. Sie starrte völlig hilflos auf ihre Sachen.
Marcin sprach sie sofort auf Ukrainisch an, nahm ihre Taschen und brachte sie bis zum Camp. Ich beobachtete, wie sie ihm langsam folgte. Sie war deutlich über 70 Jahre alt. Die beiden großen Taschen müssen all ihre Wertsachen enthalten haben. Niemand holte sie von der Grenze ab. Ich fragte mich, wo sie wohl nach dem Camp landen und ob sie es ganz alleine schaffen würde.
Diese und ähnliche Fragen tauchten in mir auf. Wir sahen immer mehr alte Menschen und Frauen mit ihrem Gepäck. Da wir kein Wort Ukrainisch sprachen, machten wir Handzeichen, um unsere Hilfe anzubieten. Wir hatten jedoch keine Helfer-Jacken an und ich kann mir vorstellen, dass für die Flüchtlinge, die eben einem Krieg entkommen waren, zwei gestikulierende Inder nicht unbedingt verlockend aussahen. Die Leute wollten nicht, dass wir ihr Gepäck trugen, vielleicht weil sie große Angst hatten und nicht wussten, ob sie uns trauen konnten.
Zwei indische Freiwillige kamen auf uns zu, als sie uns so verzweifelt sahen, und fragten:„Naattil evidunna? Malayalikal aanalle?“ Das war Malayalam, meine Muttersprache, und bedeutete, ob wir Malayalis seien. Ich nickte und strahlte über das ganze Gesicht. Die Freiwilligen gaben uns einen detaillierten Überblick über das Geschehen an der Grenze in den letzten Tagen.
Eines Nachts trafen wir auf eine Frau in den Fünfzigern. Sie wartete darauf, dass ihre Eltern die Grenze passierten. Ihre Augen waren voller Angst. Wir versuchten, sie zu beruhigen, boten ihr heißen Kaffee an und begannen ein Gespräch. Da sie kein Englisch sprach, dolmetschte Marcin für uns.
Ihre Eltern waren aus Donetsk, eine Region im weit entfernten Osten der Ukraine, in die die Russen vorgedrungen waren. Ihr Haus war komplett zerbombt worden, aber sie hatten es geschafft am Tag zuvor mit den nötigsten Habseligkeiten zu fliehen. Die Mutter war 72 und der Vater 76. Jedes Mal, wenn sie ihre Eltern anrief, um sich über die aktuelle Fluchtsituation zu erkundigen, schluchzten sie verzweifelt. Zu dem Zeitpunkt waren sie bereits eine Woche unterwegs. Zwei Tage im Zug und dann zwei Tage im Bus, mit Zwischenstationen in Bunkern, die auf dem Weg lagen.
Nun waren ihre Eltern endlich in Budomierz angelangt. Das lag bereits fünf Stunden zurück. Seitdem standen sie in der Schlange, um den Papierkram zu erledigen. Keine Worte konnten die völlig in sich aufgelöste Frau trösten. Wir boten ihr an, sich eine Weile in unser Zelt zu setzten, doch sie sprang bald auf, um auf den Grenzübergang zu starren. Ihre Augen waren stur auf die Tür dort fixiert.
Dann war da noch eine Mutter, die auf ihre beiden Töchter wartete, die auf der ukrainischen Seite festsaßen. Die Frau wirkte reich und gebildet, sie arbeitete in Polen. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass mit der Reise alles glatt gehen und ihre Töchter die Grenze bald passieren würden. Doch zu dem Zeitpunkt wartete sie bereits sieben Stunden.
Sie stand mit den Mädchen telefonisch in Kontakt, offenbar war ihnen sehr kalt. Ich schlug vor, dass ein Mädchen in der Schlange bleiben könnte, während die andere in den beheizten Bereich gehen könnte, um sich dort aufzuwärmen. Aber sie meinte, die beiden hätten zu große Angst davor, sich aus den Augen zu verlieren und womöglich getrennt zu werden. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als in der Kälte zu warten.
Es gab unzählige Geschichten in der Art. Für uns als Freiwillige waren die Momente unbezahlbar, wenn wir sahen, wie Familien an der Grenze zusammengeführt wurden, sich umarmten und sich die Augen ausweinten.
In einer anderen Nacht hatte eine afrikanische Frau gerade die Grenze überquert, als sie mit drei Kindern auf unseren Stand zukam. Lächelnd boten wir ihr Kaffee an, den Kindern gaben wir Schokolade und Obst. Wir versuchten sie zu trösten und fragten sie, wie es ihr gehe.
Sie seufzte sichtlich erleichtert: „Ich schätze wirklich sehr, was ihr alle tut. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben, bis wir schließlich hier angelangt sind, wo wir uns sicher fühlen können. Ich komme aus Charkiv. Es waren tagelang nur Bomben und Kugeln zu hören. Mein Sohn zuckt immer noch zusammen, sobald er nur das leiseste Geräusch von Gegenständen hört, die auf den Boden fallen. Nach langer Zeit seid ihr die ersten Menschen, die mich fragen, wie es mir geht. Das tut so gut. Ganz vielen Dank.“
Das erinnerte mich an Ammas Worte: „Ein liebevolles Lächeln, ein Wort des Mitgefühls und ein kleiner Akt der Freundlichkeit können den Menschen bereits sehr helfen.“
Sie hatte Tränen in den Augen, als sie wieder ging. Ich dankte Amma für diese wunderbare Gelegenheit, einfach nur da gewesen sein zu dürfen, als ein Werkzeug in ihren Händen. Es ist unglaublich zu sehen, wie Ammas Liebe Tausende von Menschen auf unterschiedliche Weise erreicht.
Es war unsere erste Freiwilligenarbeit, bei der Amma die Fortschritte direkt und täglich durch Swami Shubamritananda überprüfte. Unsere ehrenamtlichen Bemühungen hätten ohne Ammas Rat nicht solche Früchte getragen.
In den ersten Tagen hatten wir in den Camps sehr wenig zu essen. Da wir Vegetarier sind, konnten wir die Fleischsuppe dort nicht essen. Wir ernährten uns von Brot, Butter und Nudeln im Becher. Das Wetter war auch ziemlich extrem. Wir arbeiteten von 9:00 – 21:00 Uhr, manchmal auch länger, und wir hielten uns die meiste Zeit draußen im offenen Zelt auf. Da ich aus Kerala bin, war das für mich eine echte Herausforderung. In den ersten drei Tagen gab es nicht einmal eine Heizung.
Allerdings fühlte ich Ammas Präsenz an unserem Stand sehr stark. Es fühlte sich mühelos an, die Situation zu bewältigen. Ich dachte immer wieder an Ammas Dharshans, die die ganze Nacht gingen und bei denen sie den sehnsüchtigen Menschen ein mitfühlendes Lächeln und liebevolle Worte schenkte.
Auf diese Inspiration wird wahrscheinlich jeder Freiwillige bei seinen Bemühungen zurückgreifen. Jedes Mal, wenn uns die Müdigkeit packte, wurden wir von irgendwoher mit Ammas Liebe und Energie durchströmt, die unsere Begeisterung und Kraft wieder aufluden, um weiterzumachen. Sie gab auch ständig Ratschläge und machte uns Vorschläge, was wir verbessern könnten.
Nach neun Tagen an der Grenze mussten Rohit und ich wieder in die Arbeit und so stiegen wir in den Zug zurück nach Deutschland. Nie im Leben hätte ich mir ausmalen können, was ich dort erlebt habe. Krieg ist der Gipfel des menschlichen Egos in seiner mächtigsten Gestalt, ein ständiges Streben nach Kontrolle und Herrschaft. Worte reichen nicht aus, um die Nachwirkungen der Zerstörung im Leben der Menschen zu beschreiben.
Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich immer noch die Gesichter von alten Ehepaaren mit schwerem Gepäck, Mütter mit ihren Kindern ohne Vater, ausgelaugte Kinder. Sie alle flohen über die Grenze, rannten wörtlich um ihr Leben, auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf.
Obwohl die Erinnerung daran so schmerzhaft ist, spüre ich zugleich eine große Demut angesichts dessen, was mir das Leben geschenkt hat. Ich habe ein Zuhause und ein Bett, etwas zu Essen, gute Freunde und eine liebevolle Familie.
Möge die Menschheit die Stärke und den Mut finden, diese dunkle Zeit zu überwinden und sich gegenseitig zu unterstützen. Möge diese Arroganz des menschlichen Egos ein Ende finden. Möge Ammas Liebe den blutenden Herzen Trost spenden und in deren Leben erstrahlen und ihnen die Kraft geben, voranzuschreiten.