Ungarisch-ukrainische Grenze: Eine zweite Anlaufstelle für Flüchtlinge

17. März 2022 – Tiszabecs, Ungarn
Wien ist nur fünfeinhalb Autostunden von Tiszabecs entfernt, einem Dorf am östlichen Rand von Ungarn, nahe der ukrainischen Grenze. Nachdem sie gehört hatten, dass dort Hunderte von Flüchtlingen ankämen, beschlossen sechs Freiwillige von Embracing the World in Österreich, dort einen Posten zu errichten und heiße Getränke, Essen und Beratung über die nächsten Schritte zu bieten. Der Stand wurde am 12. März eröffnet.
„Die Menschen kommen in Autos, vollgepackt mit fünf Personen und ihren Haustieren. Alle drei bis fünf Minuten kommt ein Auto vorbei“, sagt Sarah Straub, eine der Freiwilligen. Außer einer Beratung, wie sie ihre nächsten Ziele erreichen, bietet der ETW-Stand Auskunft über medizinische und psychologische Hilfsangebote. Dies ist die erste Kontaktstelle nach Überquerung der Grenze.
„In Österreich, besonders in Wien, sind wir nur wenige Kilometer von Ungarn entfernt. Wir fühlen uns diesem Krieg geographisch sehr nahe. So entstand die Idee, durch die Einrichtung einer Anlaufstelle etwas Hoffnung zu verbreiten, wenn sie ankommen.“
Andreas Mersa arbeitet Seite an Seite mit Sarah Straub. Er erzählt von einer jungen Frau, die froh war, das Auto verlassen zu können, nachdem sie viele Stunden auf der ukrainischen Seite warten mussten. Sie kam, um eine Tasse Tee zu trinken und sagte, sie hätte die Entscheidung treffen müssen, ihre Eltern in der Ukraine zurückzulassen, weil diese nicht fort wollten. Ihr Bruder ist in Ungarn und hatte sie alle gedrängt zu kommen und bei ihm zu wohnen.
„Sie fühlte sich sehr schuldig, weil ihre Eltern sich zum Bleiben entschlossen hatten, und sie entscheiden musste, ob sie fliehen oder bei den Eltern bleiben sollte“, sagte Mersa. „Sie erzählte uns von ihrer Facebook-Gruppe. Die war dazu da, um Leute in einem bestimmten Viertel ihrer Heimatstadt miteinander zu vernetzen. Jetzt werden darauf Bilder von Verstorbenen veröffentlicht, um die Leute über den Tod ihrer Lieben zu informieren.“
Vielleicht klingt es sehr unerheblich, einfach etwas zu essen und trinken anzubieten, dazu einige Worte des Trosts und Ratschläge. Aber es ist eine Unterstützung, die den gerade aus der Ukraine Ankommenden Entlastung bringt. Die Menschen sind gerade vor dem Krieg geflohen und wenn sie die Grenze übertreten, haben sie diese Furcht noch in sich.
„Man kann sehen, dass sie emotional verschlossen und durchgefroren sind. Aber sobald man mit einem Lächeln, einer Süßigkeit und einem warmen Getränk in der Hand an sie herantritt, beginnen sie plötzlich, sich zu entspannen“, sagt Barbara Caretta, eine andere Freiwillige.
„Meist sieht man Tränen in ihren Augen, besonders bei Müttern, die kleine Kinder auf dem Rücksitz des Autos haben. Und sie fangen wirklich zu weinen an. Dann sieht man, dass die Anspannung, die sie bis zu diesem Punkt aufgestaut haben, sich zu lösen beginnt.“
Auch Rudi Risatti gehört zu dem Team an der ungarischen Grenze. Als sie den Stand eröffneten, herrschte Hochbetrieb. Jeden Tag 130 oder 140 Gruppen in Autos, dazu etwa 20 Leute, die zu Fuß kamen. Jetzt verringert sich der Zustrom an manchen Tagen auf ca. 50 Autos, aber am nächsten Tag können es wieder bis zu 100 sein. Das Team hat beschlossen, vor Ort zu bleiben, denn niemand weiß, was der nächste Moment bringt.
„Die meisten Flüchtlinge, die wir sehen, etwa 95%, lassen ihre Väter, Söhne oder Brüder zurück, die in der Ukraine bleiben müssen, um das Land zu verteidigen“, sagt Risatti.
„Wir sehen meist Familien, Kinder, ältere Leute. Sie sind traurig und brauchen einfach etwas Entlastung. Wenn wir auf sie zugehen und ihnen einfach etwas geben – den Kindern etwas Schokolade – sind sie sehr gerührt. Es ist eine Freude, diesen Dienst zu tun.“
Die Freiwilligen logieren etwa 18 Kilometer entfernt vom Grenzposten in einer Frühstückspension. Sie wird von einer ortsansässigen Familie betrieben, die sich sehr gut um sie kümmert. Dort haben sie eine kleine Küche, wo sie am Abend Essen aufwärmen können. Für das Mittagessen an der Grenze haben sie einen Gaskocher, auf dem sie sich ein Nudelgericht kochen.
Es hat nicht lange gedauert, bis diese idealistische Hilfsaktion Freiwillige von Embracing the World in anderen Teilen Europas inspirierte. Leute aus Italien, Spanien, Frankreich und Belgien haben sich bereits entschlossen, nach Ungarn zu reisen und ihre Unterstützung anzubieten. Raffaella Cairoli kam am Vorabend aus Italien.
„Wir sind hier, um den Flüchtlingen zu zeigen, dass wir von weither gekommen sind, um ihnen einen Kaffee und unsere Solidarität anzubieten. Wir bieten Unterstützung und Liebe. Und das berührt sie. Und für ein paar Sekunden können sie empfinden, dass es Leute gibt, die das für sie tun“, sagt sie.
Jedes Mitglied des Teams ist dankbar für diese Gelegenheit, den geflüchteten Menschen dienen zu können. Weil der Konflikt gerade ausbrach, als die COVID-Pandemie abzuebben begann, waren sie anfangs unsicher, ob sie das Durchhaltevermögen und die Ressourcen aufbringen könnten, um einen Stand nahe der Grenze aufzubauen. Aber irgendwie hat alles geklappt.
„Ammas Lehre, zu lieben und zu dienen, wurde hier zu unserer Erfahrung. Wenn man etwas aus dem Herzen heraus tut, dann bekommt man irgendwie die Kraft. Das ist eine sehr bereichernde Erfahrung auf der menschlichen Ebene“, sagt Sarah Straub.
„Wenn man sieht, wie Menschen aus ihrem Land fliehen müssen, bekommt man ein Gefühl dafür, dass Frieden nichts ist, dessen man sich gewiss sein könnte. Frieden ist kostbar und das sollten wir nie vergessen.“